In den vergangenen Tagen wurde in Deutschland viel über Luftverschmutzung diskutiert. Wissenschaftler, Ärzte, Fachverbände haben sich beteiligt und widersprüchliche Positionen eingenommen. Demnach sind unsere aktuellen Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide entweder viel zu streng oder viel zu lasch. Schlechte Luft ist entweder gefährlich oder als Gesundheitsproblem extrem überbewertet.
Wer nicht selbst Epidemiologe oder Lungenärztin ist, fragt sich womöglich, welcher Seite man glauben soll – was leider mit einer Schwäche der Medienberichterstattung der vergangenen Tage zusammenhängt, der sogenannten „false balance“, der falschen Gewichtung.
Welcher Aussage trauen Sie eher?
Begeben Sie sich auf ein kleines Gedankenexperiment. Blenden Sie zunächst die Debatte der vergangenen Tage, so gut es geht, aus und lesen Sie die folgenden zwei Sätze:
- 1. „Gesundheitsschädliche Effekte von Luftschadstoffen sind sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch bei Patienten mit verschiedenen Grunderkrankungen gut untersucht und belegt.“
- 2. „Lungenärzte sehen in ihren Praxen und Kliniken diese (durch Zigarettenrauch bedingte) Todesfälle an COPD und Lungenkrebs täglich; jedoch Tote durch Feinstaub und NOx, auch bei sorgfältiger Anamnese, nie.“
Vertrauen Sie einer der Aussagen spontan? Lehnen Sie eine sofort ab? Wollen Sie das (noch) nicht entscheiden, weil Informationen fehlen?
Zur Einordnung:
- Der erste Satz stammt aus einem Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (DGP) und Beatmungsmedizin von 2018.
- Der zweite aus einer aktuellen Stellungnahme, die federführend vom Lungenarzt Dieter Köhler erstellt wurde, der früher Präsident eben jener Gesellschaft war. Rund hundert weitere Pneumologen haben sie unterzeichnet.
Na bravo!
Falls Sie noch unschlüssig waren, hat Ihnen diese Einordnung vermutlich nicht geholfen. Die einen Lungenärzte sagen das eine, die anderen das andere. Na bravo. Warum sollte man einem Experten mehr trauen, dem anderen weniger?
Womit wir zur „false balance“ kommen. Die beiden Sätze stehen dort, als seien sie gleichwertig, als müsse man beiden gleichermaßen Vertrauen oder zumindest Aufmerksamkeit schenken. Das ist jedoch ein Trugschluss, der aufgrund der falschen Darstellung entsteht und der sich hier auf die gesamte Debatte übertragen lässt.
In der Diskussion kam Dieter Köhler als Initiator der Stellungnahme fast überall zu Wort. Er konnte wieder und wieder erklären, dass die wissenschaftlichen Daten einen „systematischen Fehler“ enthalten, „extrem einseitig interpretiert“ wurden, dass die meisten Raucher nach Monaten sterben müssten, wenn Luftverschmutzung ein solches Risiko darstelle.
Schlimmstenfalls arrogant
Bisweilen wurde ihm dabei von Epidemiologen – Wissenschaftlern oder Ärzten, die sich mit der Verbreitung von Krankheiten, ihren Ursachen und ihren Folgen auseinandersetzen – widersprochen. Köhler wisse einfach nicht, „wie heute Risikobewertung gemacht wird“, sagte etwa der Epidemiologe Heinz-Erich Wichmann bei „Anne Will“. Das klingt bestenfalls entnervt und schlimmstenfalls arrogant.
In solchen Auseinandersetzungen entsteht leicht der Eindruck, beide Beteiligten hätten einen ähnlich validen Punkt. Man muss sich bloß entscheiden, wem man lieber glauben will.
Doch der Punkt, den Köhler zusammen mit rund hundert Lungenärzten macht, ist nur scheinbar gleichwertig, was sich beispielhaft an den beiden oben genannten Sätzen erklären lässt.
„Gesundheitsschädliche Effekte von Luftschadstoffen sind sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch bei Patienten mit verschiedenen Grunderkrankungen gut untersucht und belegt“, schreibt die DGP. Das Positionspapier hat 451 Quellenangaben, wie der Lungenarzt Kai-Michael Beeh in einem Gastbeitrag erwähnte. Das Papier geht auf noch bestehende Unsicherheiten ein und erklärt an diesen Stellen, welche genauen Studien bislang fehlen. Es zählt auf, welche biologischen Mechanismen bereits bekannt sind oder vermutet werden, mit denen Luftschadstoffe nicht nur die Atemwege, sondern auch andere Organe schädigen könnten.
Kurzum: Es behauptet nicht nur, dass Luftschadstoffe der Gesundheit schaden, sondern es belegt die Behauptung und weist auf die eigenen Grenzen des Wissens hin. Das bedeutet nicht, dass man jeder Schlussfolgerung dieses Positionspapiers blind folgen sollte, aber man sollte es sehr ernst nehmen.
„Lungenärzte sehen in ihren Praxen und Kliniken diese (durch Zigarettenrauch bedingte) Todesfälle an COPD und Lungenkrebs täglich; jedoch Tote durch Feinstaub und NOx, auch bei sorgfältiger Anamnese, nie.“ So steht es in der Stellungahme von Köhler und seinen Fachkollegen – und auf den ersten Blick mag das plausibel klingen. Auf den zweiten wirft diese Behauptung jedoch Fragen auf.
Woher wissen die Mediziner, dass bei einem konkreten Patienten die schwere Lungenkrankheit COPD auf das Rauchen zurückzuführen ist oder eine konkrete Patientin wegen ihres Zigarettenkonsums an Lungenkrebs erkrankt ist? Zwar geht Rauchen mit einem dramatisch erhöhten Risiko für beide Krankheiten einher. Doch ob es im Einzelfall der Auslöser war, das nimmt der Arzt bloß an. Und wenn Nichtraucher an Lungenkrebs und COPD erkranken, woher wollen Köhler und seine Mitunterzeichner dann wissen, dass dies nicht auf Luftverschmutzung, auf Feinstaub, zurückzuführen ist?
Alles nur geschätzt
„Die geschätzte Zahl der Todesfälle durch Rauchen wird auf der Grundlage statistischer Zusammenhänge aus epidemiologischen Studien ermittelt, genau wie wir die Todesfälle durch Luftverschmutzung schätzen“, erklärt etwa der Epidemiologe Michael Brauer von der University of British Columbia.
Köhler und seine Mitunterzeichnenden behaupten hier etwas, das schlüssig klingt, aber bei näherer Betrachtung fragwürdig ist und nicht weiter belegt wird. Beide Sätze sind also nicht gleichwertig und sollten auch nicht so präsentiert werden.
„False Balance“ war lange ein Problem der Klimaberichterstattung, bei der einzelnen, vom wissenschaftlichen Konsens abweichende Meinungen unverhältnismäßig viel Raum gegeben wurde. Manchmal tritt es bei anderen Gesundheitsthemen zutage, bei denen die wissenschaftliche Faktenlage solide ist, aber Gegenstimmen immer wieder viel Gehör finden – wie beim Impfen oder der Homöopathie.
Und nun?
Das heißt nicht, dass wir die Stellungnahme Köhlers lieber allesamt hätten ignorieren sollen. Ein Infragestellen etablierter, lieb gewonnener Thesen ist grundsätzlich nie verkehrt. Das sollte aber nicht dazu führen, dass – wie es hier zum Teil geschehen ist – den Kritikern alles völlig kritiklos geglaubt wird. Wer hinterfragt, muss auch hinterfragt werden.
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