Viele Menschen setzen Alleinsein mit ungewollter Einsamkeit gleich. Doch wer sich ab und an auf sich konzentriert, kann dadurch Gesundheit und Selbstwert stärken
Im Gegensatz zu Einsamkeit kann Alleinsein das Wohlbefinden steigern
Er setzt sich, studiert die Speisekarte, wählt Ente mit Rotkohl und Kartoffelknödel, dazu ein Wasser. Ins Restaurant ist er alleine gekommen. Nun erntet er Blicke, in denen Mitleid mitschwingt. Die Menschen scheinen zu denken: "Wie traurig, wenn man niemanden hat, der mit einem zusammen isst."
Menschen brauchen Menschen. Das Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit liegt in unserer Natur. Wir wollen dazugehören, anerkannt und gemocht werden. Das zeigt sich unter anderem in der Bedeutung, die wir gemeinsamen Mahlzeiten beimessen. Doch auch Auszeiten, Rückzugsmöglichkeiten sind wichtig – um den Kontakt zu sich selbst nicht zu verlieren, seine Gefühle zu ordnen, abzuschalten.
Umfragen belegen: Alleinsein ist erholsam und gesund
In einer Umfrage von Wissenschaftlern und der britischen Rundfunkanstalt BBC unter 18.000 Menschen aus 134 Ländern landete Alleinsein auf Platz drei der Aktivitäten, die die Teilnehmer als besonders erholsam empfanden. Auf Platz eins stand Lesen, danach In-der-Natur-Sein. Beides ebenfalls nichts, was man gewöhnlich in großen Gruppen unternimmt.
Psychologen der Universität Dresden untersuchten vor einigen Jahren die Work-Life-Balance von knapp 500 Studenten und fanden heraus: Am wenigsten litten diejenigen unter seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen, die ausreichend Zeit hatten, um "über sich selbst nachdenken zu können". Die Forscher schlossen daraus, dass sich eine gewisse Zeit des Alleinseins positiv auf die eigene Gesundheitsfürsorge auswirke.
Angst vor dem existenziellen Alleinsein
Trotzdem hat Alleinsein meist einen negativen Beigeschmack. Warum eigentlich? Vielleicht wegen dieser einen Erkenntnis, die einen in den unterschiedlichsten Situationen treffen kann, vielleicht sogar im Kreis geliebter Personen. Alle plaudern, lachen, man selbst hat den Gesprächsfaden verloren, starrt ins Leere – und dann überkommt es einen.
"Sosehr wir auch versuchen, in Beziehungen zu leben, spüren wir trotzdem ganz tief in uns: Letztlich sind wir alleine", sagt Wunibald Müller, Theologe, Seelsorger und Psychotherapeut aus Würzburg. Wir werden alleine geboren und werden alleine sterben. Selbst wenn uns andere Menschen dabei liebevoll begleiten. Wen diese Erkenntnis trifft, der kann Angst bekommen vor diesem existenziellen Alleinsein, das nach Einsamkeit schreit.
Dabei gibt es Unterschiede zwischen Alleinsein und Einsamkeit. Der Soziologie-Professor Rolf Haubl, ehemaliger Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main: "Einsam sein schmerzt, alleine sein tut gut." Einsamkeit ist meist nicht selbst gewählt, allein sein dagegen schon. Karl-Heinz Ladwig, Professor für Psychosomatische Medizin am Helmholtz-Zentrum München, fand in einer Studie mit über 4000 Teilnehmern heraus: "Es gibt viele Menschen, die alleine leben, sich aber nicht einsam fühlen. Es gibt aber auch viele, die sich einsam fühlen, obwohl sie in einer Partnerschaft leben."
Zeit, um in sich hineinzuhören
Singles, die glücklich sind? Das wollen viele nicht recht glauben. Eher neigen wir dazu, Menschen ohne Gesellschaft zu unterstellen, sie seien unzufrieden. Ohne Begleitung ins Restaurant? Das macht doch niemand freiwillig! Doch. Gerade in Zeiten von Smartphones, E-Mails, Facebook, wo man nie wirklich ganz für sich sein kann, ist Alleinsein ein knappes – und damit wertvolles – Gut. Menschen machen Urlaub im Kloster, gehen bewusst offline, belegen Achtsamkeitskurse, um in sich hineinzuhören.
"Zu wissen, wer man ist und was man will, stärkt ungemein", sagt Ladwig, Experte für mentale Gesundheit. Wer Zeit mit sich selbst verbringt, kann seine Kreativität fördern und besser Entscheidungen treffen. Der inneren Stimme und den Gedanken lässt man freien Lauf.
Menschen, die gerne einmal alleine sind, ohne sich einsam zu fühlen, wissen um diese positiven Seiten der Zeit mit sich selbst. Und ihnen ist bewusst: Wenn die anderen abwesend sind, bedeutet das nicht, dass jemand keine sozialen Kontakte hat oder Beziehungen nicht pflegt. Hat man genug von der Abgeschiedenheit, nimmt man die Kontakte wieder auf. Seelsorger Wunibald Müller: "Ich bin sehr gerne ein paar Tage allein, wenn ich weiß, dass ich danach wieder in den Kreis meiner Familie zurückkehre."
Alleinsein stärkt die eigene Selbstwirksamkeit
Was aber hält dann das negative Image des Alleinseins aufrecht? Warum fühlen sich viele Menschen nur in Gesellschaft anderer wohl? Der Soziologe Rolf Haubl beantwortet diese Frage, indem er eine Szene schildert: Ein Kleinkind spielt mit Bauklötzen, wirft sie immer wieder in einen Becher. Die Mutter greift ein. Sie will ihm zeigen, was man noch alles mit den Klötzen anstellen kann.
"Die Mutter tut so, als würde ihrem Kind nichts einfallen, als würde es sich langweilen, und konfrontiert es mit ihrer Vorstellung davon, wie man richtig spielt", sagt Haubl. Das Kind hingegen war einfach nur bei sich und hat ausprobiert, was es selbst mit den Klötzen alles anfangen könnte. Genau das müsse man lernen, um Alleinsein genießen zu können.
Wichtig sind Haubl zufolge der Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit. Die Mutter müsse dem Kind vertrauen, es einfach machen lassen. Auf diese Weise sammeln Menschen bereits früh positive Erfahrungen mit dem Alleinsein und können sich später etwa in Krisensituationen zurückziehen und in Ruhe nach einer Lösung suchen.
Angst vor negativen Gefühlen: Äußere Reize dienen als Betäubung
Hat jemand das nicht gelernt, kann schnell das schmerzhafte Gefühl von Einsamkeit entstehen. Man ist nicht in der Lage, ohne Ablenkung nur mit sich zu sein. Man kommt mit den negativen Emotionen und Gedanken nicht zurecht, die dann präsenter sind. Mit Ängsten beispielsweise, unverarbeiteter Enttäuschung oder Trauer oder auch einfach nur Langeweile. Weil man den Raum mit sich nicht zu füllen weiß, versucht man sich mit Reizen von außen zu betäuben.
Gleichzeitig hindern einen zu viele Reize, zu sich zu kommen, Zeit nur mit sich selbst zu verbringen. Sei es der pausenlose Input über Fernseher, Smartphones, Computer, Tablets. Oder seien es die Meinungen und Erwartungen anderer, die uns zum Beispiel weismachen wollen, dass Menschen nur in Liebesbeziehungen Erfüllung finden können oder jeder möglichst viele Freunde braucht.
Wer allein sein kann, genießt die Gesellschaft anderer mehr
"Vor allem Menschen mit geringem Selbstwert tun sich mit dem Alleinsein schwer", sagt Psychotherapeut Wunibald Müller. Überhöhte Erwartungen an sich selbst behindern sie: die Überzeugung, besonders schön aussehen oder extrem viel leisten zu müssen, um von anderen gemocht zu werden.
Wer wenig Selbstbewusstsein besitzt, braucht die Bestätigung und damit oft besonders dringend die Gesellschaft anderer. Sie dienen als Projektionsfläche. Doch nur wer allein sein kann, könne die Gemeinschaft mit anderen wirklich genießen, erklärt der Experte. "Dann bereichern einen diese Menschen, ohne dass ich von ihnen abhängig bin."
Wie aber kann ein Erwachsener lernen, das Alleinsein zu genießen? "Es mag hart sein, den Blick auf sich selbst zu richten", sagt Seelsorger Müller. Aber man könne sich in kleinen Schritten vorantasten. Dazu gehöre unter anderem, sich zu fragen, welche Gefühle man sich gegenüber spüre: "Sind sie warm, herzlich, liebevoll?", so Müller. Und gut mit sich selbst umzugehen, sich etwas zu gönnen. Etwa eine Massage, einen Kinobesuch oder ein besonders gutes Essen. Ente mit Rotkohl und Kartoffelknödel zum Beispiel. Ins Restaurant gehen Sie schließlich in bester Gesellschaft – mit sich selbst.
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